ENTREE – WIE ES ZUM FILM KAM
Der Ursprung meines Dokumentarfilms über Raubtier-Dompteurinnen liegt in meiner persönlichen Faszination für diese mutigen Frauen mit ihrem aussergewöhnlichen Beruf. Schon als Mädchen war ich angezogen von einer Dompteurin aus „Salto Mortale“, einer Fernsehserie der 60er Jahre. Ich wollte nach ihrem Vorbild Tiger-Dompteurin werden. Nun als 50-jährige Filmerin versuche ich zu erforschen, wie die Realität dieser wagemutigen Frauen tatsächlich aussieht und was für Fähigkeiten es braucht, um diesen gefährlichen Beruf ausüben zu können. Ich will sichtbar machen, was hinter dem Bild der glitzernden sexy Frauen steckt, wie ihr Berufsalltag abseits des Scheinwerferlichts aussieht. Was für eine Beziehung haben sie zu den gefährlichen Tieren und wie erleben sie ihre Situation als Frau?
Je länger ich mich mit der Realität dieser Berufswelt auseinandersetze, umso komplexer wurde das Filmprojekt. Seit Beginn der Zirkusse gab es weibliche Raubtier-Dompteurinnen. Sie waren immer Ausnahmeerscheinungen und erhielten gerade durch den scheinbaren Gegensatz von schwacher Frau und wilder Bestie eine grosse Aufmerksamkeit: „La belle et la bête“, die schöne Frau mit der Kraft der Sanftmut – welche imposantes Bild.
Heute gibt es nur eine kleine Zahl von Raubtier-Dompteurinnen und es werden jährlich weniger. Dementsprechend abenteuerlich war es, mit heutigen Dompteurinnen in Kontakt zu kommen und sie in verschiedensten Ländern aufzuspüren. Schliesslich habe ich mich für die junge Französin Namayca Bauer, die Deutsche Carmen Zander, die Ägypterin Anosa Kouta, die russische Mutter Nadezhda Takshantova und ihre Tochter Aliya entschieden. Sie überzeugten mich in ihrer Professionalität, durch ihre künstlerische Eigenart und ihren sechsten Sinn für ihre Tiere. Gleichzeitig konnte ich erfahren, wie unterschiedlich sie an die Zähmung der Tiere herangehen und wie speziell ihr jeweiliger Alltag in den verschiedenen Ländern aussieht.
DIE DOMPTEURINNEN
Bei all den Verschiedenheiten der Protagonistinnen wie Alter, familiäre Situation und Auftrittsmöglichkeiten haben alle eine klare Gemeinsamkeit: Sie alle lieben ihren Beruf und ihre Tiere über alles. Sie kennen ihre sanften Biester sehr gut, verbringen sie doch täglich viele Stunden mit ihnen, sei dies in der Manege oder bei der täglichen Tierpflege, der Fütterung und der Dressurarbeit. Und sie alle wissen: Raubtiere sind und bleiben gefährlich. Dies ist für sie kein Grund, Angst vor ihren Tieren zu haben. Aber es braucht absolute Aufmerksamkeit. Selbst eine Sekunde Ablenkung reicht, dass etwas passieren kann. Dies habe ich gleich zu Beginn meiner Recherchereise in Russland miterlebt, als es wegen einer kurzen Unachtsamkeit fast zu einem Unfall gekommen wäre. Dieser Vorfall hat unmittelbar auch meine Wahrnehmung für die Tiere geschärft.
Je mehr Zeit ich mit den Raubtier-Dompteurinnen verbrachte, desto grösser wurde mein Respekt vor dem Mut dieser Frauen: Zu Kämpfen ist ihr Tagesgeschäft, sei dies in der Arbeit mit den Tieren, bei der Fleischversorgung, wenn sie sich der Konkurrenz unter den ArtistInnen oder den Angriffen radikaler Tierschützer stellen müssen.
KULTUR DER ZÄHMUNG
Der Beruf der Dompteurin ist vom Aussterben bedroht. Bald wird es im Zirkus keine Vorführungen von Löwen und Tigern mehr geben. In den skandinavischen Ländern, in Belgien, Griechenland, Österreich, aber auch in Israel, Mexiko, Peru, Singapur besteht bereits ein Verbot für Raubtier-Nummern in Zirkussen. In Deutschland und weiteren europäischen Ländern wie England ist ein entsprechendes Gesetz in Vorbereitung. Die Möglichkeiten für Auftritte werden für meine Dompteurinnen und ihre männlichen Kollegen jährlich kleiner. Ihre Sorgen sind entsprechend gross. Was wird aus ihren geliebten Tieren werden?
Ich sehe die Dompteurinnen und Dompteure als Stellvertreter einer anderen Welt, einer geheimnisvollen magischen Welt. Die ersten Leute, die Raubtiere einfingen und dressierten, waren Priesterinnen und Priester im antiken Ägypten. Sie stellten sich den übermächtigen Tieren und bezwangen dadurch symbolisch den Tod. Im Gegensatz zu den Gladiatoren, welche die Tiere für die Schaulust des Volkes töten, bezwingen sie die Gefahr. Heute wird die Kunst der direkt erlebbaren Tierzähmung vom Zirkus verdrängt, während Filme mit Kämpfen gegen Drachen oder Robotern die Kinos erobern. Diese Formen der Bezähmung feiern grosse Erfolge, da wir Menschen eine archaische Lust nach einer Herausforderung durch übermächtige Kräfte haben. Ein Kampf, der sich oft in unseren Träumen wiederfindet, wenn wir von wilden Tieren verfolgt werden.
AUFTRITT DER FRAUEN
Bei Raubtiernummern geht es um das Spiel zwischen Dominanz und Unterwerfung. Jäger und Gejagtem. Wenn nun aber eine attraktive, weibliche Tierbändigerin in der Manege steht, kommt eine weitere, eine erotische Komponente hinzu. Das Spiel wird komplexer. Dies sieht man in meinem Film im Vergleich der ägyptischen Dompteurin mit ihrem Bruder: Während er sich aggressiv gebärdet, kommt die Dominanz von Anosa auf anschmiegsame Weise daher, um dann mit einem Peitschenschlag sekundenschnell wieder in klare Überlegenheit zu kippen. Alle meine Protagonistinnen wissen dieses weibliche Verwirrspiel geschickt zu inszenieren, sei dies dank ihrer Kostümierung, ihres Auftretens oder der Art der Nummerndarbietung.
Die junge Französin Namayca kreiert auch ein anderes Bild, das des paradiesischen Zustands vor dem Sündenfall, als Mensch und Tier im Einklang waren: In ihrer Darbietung rennt sie wie eine Gazelle inmitten ihres Löwen-Rudels und springt gemeinsam mit ihnen über Hindernisse. Ein zauberhafter Moment – und gleichzeitig äusserst gefährlich, denn falls die junge Frau hinfallen würde, würden sich die Tiere sofort auf sie stürzen und sie zerfleischen.
HERAUSFORDERUNGEN DER DREHARBEITEN
Dreharbeiten mit so gefährlichen Tieren brauchen verschiedene Vorsichtsmassnahmen. Ein Filmteam bringt der Dompteurin erhöhte Gefahr, da die Tiere auf uns reagieren und so Unruhe in der Tiergruppe entsteht. Besonders abenteuerlich war es mit der kamerascheuen Tigerin Imani von Carmen, die unverzüglich auf den Kameramann reagierte, diesen Mann mit dem unheimlichen „dritten Auge“ und mit seinem schleichenden Gang. Auch der Tonmann erzeugte eine spezielle Herausforderung, denn die Raubtiere wollten ständig seinen „Pelzknäuel“ (das Mikrophon im flauschigen Windschutz) erhaschen und damit spielen. Insofern mussten wir verschiedenste Tricks anwenden, um zum Beispiel gute Aufnahmen der Geräusche und des Atems der Raubtiere zu erhalten. Die besondere Drehsituation hatte eine ausgeklügelte Nachbearbeitung der Tonebene inklusive Geräuschemacher zur Folge und verlangte ein spezielles Musikkonzept, das der üblichen Zirkus-Musik eine eigene Klangwelt entgegensetzt. Mir war von Anfang an bewusst, dass in diesem Film der Ton von grosser gestalterischer Wichtigkeit ist, um der bildlichen Wucht der schönen Frauen und ihren attraktiven Tieren eine entsprechende Kraft im Sound zu geben.
FINALE
Die Aufführung der schönen Dompteurin war für mich als Kind ein prägendes Erlebnis. Diese Magie der Zähmung ging durch die Dreharbeiten und den Blick hinter die Kulissen keineswegs verloren. Der Zauber ist geblieben, hat sich aber gewandelt. Gerade durch das Wissen, wie hart die Schufterei und der Kampf in der Zirkuswelt ist und wie ambivalent die Rolle der Frauen ist, entstand für mich eine neue Magie: ihre absolute Hingabe und Bedingungslosigkeit. Insofern haben mir die glitzernden Raubtier-Dompteurinnen der Manege mit ihrer Achtsamkeit und ihrem Respekt gezeigt, wie angewiesen wir Menschen auf ein Zusammenwirken mit Tier und Natur sind.