Mein Arzt geht in Pension. Nach dem ersten Schock, dass so etwas überhaupt möglich ist, begann ich ihn zu befragen, nach seiner Herkunft, nach seinem Werdegang, nach seinen Wünschen und Träumen. Und ich hörte Erstaunliches: Sein Vater war Verdingbub, seine Mutter Fabrikarbeiterin; als Schüler war er der erste Arbeiterbub in der Kanti Olten und erlebte soziale Ausgrenzung; sein Medizinstudium hat er sich vom Mund abgespart und seiner Herkunft ist er zeitlebens bewusst geblieben. Seine Praxis liegt in Zuchwil mitten im Industriequartier. Er war lange Jahre Arzt in den Fabrikhallen von Sulzer und Scintilla, wo er mehr als 3000 Arbeiterinnen und Arbeiter betreute, vorwiegend italienischer Herkunft. Mein Arzt heisst Dr. med Stephan von Arx und er ist ein typischer Arbeiterarzt. Er spricht die gleiche Sprache wie seine Patientinnen und Patienten und hat den gleichen Hintergrund wie sie. Wenn bodenständige Frauen und Männer zu ihm kommen, weiss er sie zu nehmen. Sein trockener Humor gepaart mit menschlicher Wärme und Anteilnahme kommt gut an. Im Wartezimmer erzählen mir seine Patient*innen von ihren Erlebnissen mit ihrem Dottore. Was machen wir, was mache ich, wenn er aufhört, Arzt zu sein? Ich frage ihn, ob ich seine Zeit bis zur Pensionierung filmisch begleiten darf und er willigt ein. "Die Suche nach Heilung ist aufwändig", warnt er mich, "das geht nicht im 3-Minuten-Takt der Gesundheitsindustrie; ich mache das anders." Die Konsultationen dauern bei ihm länger, denn er will das Warum und Woher eines Leidens ergründen und nicht deren Symptome mit Medikamenten bekämpfen.